Wirtschaft

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Mit den Anfang der 1990er Jahren eingeleiteten wirtschaftlichen Reformen begann der wirtschaftliche Aufstieg des Landes und eine Hinwendung zu einer sozialen Marktwirtschaft. Heute gehört Indien in Wirtschaftszweigen wie der Informationstechnologie oder in der Forschung, hier ist vor allem die Biotechnologie zu nennen, zu den führenden Ländern in der Welt.

BIP

2,7 Billionen US-$ (2018, geschätzt)

Pro Kopf Einkommen (Kaufkraftparität)

7.056 US-$ (2017, geschätzt)

Rang der menschlichen Entwicklung (HDI) Rang 129 von 189 (2018)

Anteil Armut (unter 1,90 $ PPP pro Tag) 21,2 % (2011)

Einkommensverteilung (Gini-Koeffizient) 35,20 (2011)

Wirtschaftlicher Transformationsindex (BTI) Rang 48 (von 137) (2020)

Wirtschaftssystem und Wirtschaftspolitik

Nachdem Indien im Jahre 1947 seine Unabhängigkeit erlangt hatte, waren sich alle maßgebenden politischen Kräfte darin einig, daß sowohl die wirtschaftliche Unabhängigkeit und die rasche Industrialisierung des Landes als auch die soziale Gerechtigkeit das oberste Ziel der Wirtschaftspolitik sein sollten. Ein Kapitalismus westlicher Art wurde ausgeschlossen. Indien suchte nach einem Wirtschaftssystem, das als sogenannter dritter Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus östlicher Prägung angesiedelt war. Als Ziel verfolgte man ein sog. «socialist pattern of society».

Angesichts der Schwäche der Privatindustrie wurde dem Staat eine umfassende, aktive Rolle im Wirtschaftsleben zugewiesen. Bis Anfang der 90er Jahre trat der indische Staat in massiver Form als Planer, Investor, Lizenz- und Gesetzgeber auf – allerdings mit nur mäßigem Erfolg. Die durch Fünf-Jahres-Pläne geregelte mixed economy mit einem staatlichen und privaten Sektor unterlag inneren Wachstumsschranken. Gerade die weitverbreitete Armut der Bevölkerung konnte nicht überwunden werden; absolut gesehen hatte sie sogar zugenommen. Ab 1991, ausgelöst durch eine schwere finanzielle Krise, wandte sich die damalige Congress- Regierung endgültig von der alten Wirtschaftspolitik ab und leitete Maßnahmen ein, die einer auf freier Marktwirtschaft und privatem Unternehmertum gegründeten Wirtschaftsordnung zum Durchbruch verhelfen und so neue Kräfte für ein dauerhaft hohes Wirtschaftswachstum mobilisieren sollen. Die quantitativen Erfolge haben sich bald eingestellt. Heute gehört Indien in Bereichen wie etwa der Informationstechnologie oder der Biotechnologie zu den führenden Ländern in der Welt. Dennoch gibt es noch viele Hürden zu überwinden, um einer grundlegenden Neuordnung der indischen Wirtschaft in Richtung soziale Marktwirtschaft tatsächlich zum Durchbruch zu verhelfen. Allerdings wird von einigen Kritikern moniert, daß das Ziel der sozialen Gerechtigkeit immer mehr in den Hintergrund gedrängt würde, mithin die sozialen Disparitäten im Land immer mehr zunähmen.

Mit den dann Anfang der 1990er Jahren eingeleiteten wirtschaftlichen Reformen begann der wirtschaftliche Aufstieg des Landes. Das hoch verschuldete Land, dessen Wirtschaftsakteure unter staatlichem Dirigismus und überbordender Bürokratie litten – Phänomene, die gleichwohl bis zum heutigen Tag nicht vollends verschwunden sind – befreite sich schrittweise von den Fesseln, die Nehru und später Indira Gandhi ihm auferlegt hatten. Auch wenn noch nicht alle Investitionsschranken aufgehoben sind, gehört Indien heute in Wirtschaftszweigen wie der Informationstechnologie oder in der Forschung, hier ist vor allem die Biotechnologie zu nennen, zu den führenden Ländern in der Welt.

Die seit 2014 im Amt befindliche neue Regierung unter Narendra Modi will nicht nur den marktwirtschaftlichen Kurs fortsetzen, sondern ihn noch intensivieren, indem bürokratische Hemmnisse beseitigt und der Protektionismus verringert werden soll. Ausländische Investoren sollen verstärkt aktiv werden.  Auch  die Make in India  Initiative ist mit viel Zustimmung aufgenommen  worden. Mit dem im September 2015 gestarteten Programm Make in India Mittelstand wirbt die indische Botschaft in Berlin mit Unterstützung wichtiger indischen Ministerien um deutsche mittelständische Firmen und fördern deren Eintritt in den indischen Markt. Indien war z.B. das Partnerland auf der Hannover Messe in 2015. Auch im Zuge der 4. Deutsch-Indischen Regierungskonsultationen im Mai 2017 in Deutschland und den 5. Deutsch-Indischen Regierungskonsultationen im November 2019 in Neu-Delhi nutzte Ministerpräsident Modi seinen Deutschlandbesuch, um weiter Werbung für seine Initiative zu machen.

Wirtschaftsentwicklung

Von der Unabhängigkeit 1947 bis zur Liberalisierung der Wirtschaft ab 1991 verzeichnete Indien ein stabiles Wirtschaftswachstum von durchschnittlich 3,5 Prozent pro Jahr, einen Wert, den Analysten als «hindu rate of growth» bezeichneten. Danach ist die Wirtschaft rasant gestiegen, mit durchschnittlich ca. 7 Prozent pro Jahr. Um 2010 hatte das Wirtschaftswachstum sogar die 10 %-Marke erreicht, sich danach aber wieder auf die Durchschnittsrate zurückgebildet.

Seit 2019 leidet die indische Wirtschaft unter einer Wachstumsschwäche und verzeichnete nur noch einen Zuwachs von knapp 5 Prozent. Die aktuelle Corona-Krise hat nach Angaben des Department of Economic and Social Affairs der Vereinten Nationen (UN DESA) zu einem weiteren starken Rückgang der Wirtschaftsleistung von gut 9 Prozent im Jahr 2020 geführt. Damit befindet sich Indien zum ersten Mal seit über zwei Jahrzehnten in einer Rezession. Die wirtschaftlichen und sozialen Folgen sind für die Armen besonders gravierend, nicht nur national, sondern auch international.

Regionale Unterschiede in der Wirtschaftsentwicklung sind sehr ausgeprägt. Diese haben sich seit der Liberalisierung der Wirtschaft 1991 noch intensiviert.

Indien hat unter den Folgen der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008 vergleichsweise wenig gelitten, da die Exportabhängigkeit des Landes eher gering und das Bankensystem nicht stark mit dem internationalen Finanzmarkt verflochten ist. Bereits kurz vor Amtsantritt von Narendra Modi im Jahr 2014 hat sich das Wirtschaftsklima insgesamt aufgehellt.

Die praktisch über Nacht durchgesetzte Abschaffung aller 500- und 1000-Rupien-Scheine («demonetisation») am 8. November 2016 – die in etwa 86% des im Umlauf befindlichen Bargelds ausmachten – hat sich aller Wahrscheinlichkeit nach negativ auf das Wirtschaftswachstum ausgewirkt. Die Aktion wurde damit begründet, das reichlich vorhandene Schwarzgeld zu entwerten und die Schattenwirtschaft zurück zu drängen. Tatsächlich hat sich das Wachstum der Wirtschaft Anfang 2017 auf 6,1 Prozent zurück gebildet und verharrte in den beiden Folgejahren mehr oder weniger auf diesem Niveau, allerdings mit sinkender Tendenz.

Die neue Goods and Services Tax ist Anfang 2017 landesweit mit dem Ziel eingeführt worden, die zahlreichen Bundes- und Landessteuern auf Waren und Dienstleistungen durch eine indienweit geltende Steuer zu ersetzen und damit den wirtschaftlichen Verkehr innerhalb Indiens zu fördern. Experten kritisieren allerdings das unnötig komplizierte neue System mit sechs verschiedenen Steuersätzen für unterschiedliche Güter und die eher schlechte Umsetzung seitens des Staates. Um die Dinge allerdings noch komplizierter zu machen, haben sich jetzt einzelne Bundesstaaten dazu entschlossen, zusätzlich zur GST noch Extrasteuern zu erheben.

Wirtschaftssektoren

Von den Wirtschaftssektoren sind das Dienstleistungsgewerbe sowie die Industrie am wichtigsten.   Sie erbringen 49,1% bzw. 26,8% des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Die Landwirtschaft trägt nur noch 14,6% bei. Auffallend ist, dass der Anteil sowohl der Industrie als auch der Landwirtschaft seit vielen Jahren rückläufig ist, während der der Dienstleitungen stetig zunimmt. Gleichwohl sind 43,2% der Beschäftigten in der Landwirtschaft tätig, aber nur 31,9% im Dienstleistungsgewerbe und 24,9% in  der Industrie. Noch immer lebt die Mehrheit der Inder auf dem Land (ca. zwei Drittel der   Bevölkerung). Das Wirtschaftswachstum hat kaum neue Arbeitsplätze geschaffen, und das bei einer wachsenden jungen Bevölkerung. Indien benötigt pro Jahr nach Premierminister Modis eigener Aussage 12 Mio. neue Arbeitsplätze.

Außenhandel

Indien ist Mitglied in bedeutenden internationalen Wirtschaftszusammenschlüssen, u.a. BIMSTEC, BRICS, ESCAP. Erdöl u. Erdölprodukte, Textilien u. Bekleidung, chemische Erzeugnisse und auch Nahrungsmittel zählen zu den bedeutendsten Exportgütern Indiens. In Indien werden aber auch Computer, hochtechnische Maschinen und Anlagen, Flugzeuge und militärische Ausrüstungen produziert.

Wichtige Importgüter sind neben einigen der schon genannten Produkte für den Export auch elektronische Güter sowie solche, die auf den Bereich „Baustoffe, Glas, Keramik“ entfallen. Deutschland ist Indiens wichtigster Handelspartner innerhalb der EU und steht weltweit an 8. Stelle (Lieferant) bzw. 5. Stelle (Abnehmer). Das bilaterale Handelsvolumen lag 2019 bei rund 21 Milliarden Euro. Allerdings entsprechen die Exporte gerade einmal 1% der deutschen Gesamtexporte. Im Mai 2017 und November 2019 fanden in Berlin und Neu-Delhi die vierten bzw. fünften deutsch- indischen Regierungskonsultationen statt. Dabei wurden zahlreiche bilaterale Vereinbarungen in Bereichen wie Energie, Wirtschaft, Berufsbildung, Kultur- und Wissenschaft, Sicherheit und Landwirtschaft getroffen.

Human Resources

Indiens Bevölkerung ist mit einem Durchschnittsalter von unter 23 sehr jung und insofern potenziell dynamisch. Um aber eine positive Rolle für die künftige Entwicklung des Landes einnehmen zu können, bedarf es der beruflichen Qualifizierung. Viele Unternehmen suchen händeringend nach qualifiziertem Personal. Doch das ist knapp und entsprechend wählerisch. Unter Modi wurde 2015 eine neue Initiative zur beruflichen Ausbildung mit dem Namen «Skill India» gestartet, die es zum Ziel hat bis zum Jahr 2022 400 Millionen Menschen für diverse Bereiche zu qualifizieren.

Energie und Bodenschätze

Indien verfügt über viele Bodenschätze. Hauptsächlich Kohle (Stein- und Braunkohle) und Erdöl werden als Energieträger für Konsum und Produktion benötigt. Steinkohle wird über einen staatlichen Konzern abgebaut und bleibt oft weit hinter dem Soll zurück. Wegen der minderen Qualität kann die einheimische Kohle nicht für alle Anwendungen eingesetzt werden (z.B. Stahlproduktion), deshalb muss Indien Kohle einführen.

Indien fördert auch in bescheidenen Mengen und ausschließlich für den Eigenbedarf Erdöl. Um den Bedarf decken zu können, muss Indien jedoch in großem Maßstab Öl importieren. Das Land ist bereits drittgrößter Ölimporteur der Welt (Stand 2018). Mit steigendem Wohlstand steigt auch der Konsum und Energieverbrauch in Indien massiv. Obwohl in Indien noch etwa 16% der Bevölkerung ohne Stromversorgung sind, ist Indien bereits jetzt der drittgrößte Energieverbraucher weltweit nach China und den USA (Stand 2017), in Bezug auf den CO²-Ausstoß steht es an vierter Stelle.

Derzeit wird Indiens Strom zu ca. 71% aus fossiler Energie, zu 12% aus Wasserkraft, zu 16% aus anderen erneuerbaren Energien und zu 2% aus Nuklearenergie gewonnen (Stand 2017). In den kommenden Jahren muss Indien die Energieversorgung ausbauen, will es die wirtschaftliche Entwicklung weiter vorantreiben. Um die angestrebte Verdopplung der Kapazitäten zu erreichen, muss noch stärker in erneuerbare Energien investiert werden. Neben der bislang dominierenden Windkraft soll v.a. auf Solarenergie sowie auf Wasserkraftwerke gesetzt werden. Ungeachtet der Nuklearkatastrophe in Japan und des Klimawandels setzt Indien verstärkt auf Kernenergie und Kohlekraftwerke, um den Energiehunger zu stillen. Derzeit gibt es 22 AKWs im Land, 14  weitere befinden sich aktuell in Planung oder bereits in einer fortgeschrittenen Bauphase.

Armutsbekämpfung

Armut und Ungleichheit

Indien hat sich bereits seit der Unabhängigkeit der Armutsbekämpfung verschrieben. Jawaharlal Nehru ─ der erste Premierminister ─ war der Meinung, dass die Armut durch staatliche Planung und Steuerung der Wirtschaft (in Form von Fünf-Jahres- Plänen) überwunden werden könnte. Allerdings wurden die bescheidenen Erfolge dieser Politik durch das Bevölkerungswachstum und den daraus resultierenden neuen sozialen Herausforderungen sowie durch eine überbordende Bürokratie und Misswirtschaft weitgehend unterlaufen.

Die Armutsrate in Indien ist seit der Unabhängigkeit zwar – insbesondere in den letzten Jahrzehnten – kontinuierlich gesunken. Indien ist aber nach wie vor geprägt von krasser Armut und extremer Ungleichheit von Lebenschancen: Etwa ein Viertel aller Inder leben unter der internationalen Armutsgrenze von 1,25 USD pro Tag – was einem Anteil von ca. 1/3 der Armen weltweit entspricht – und etwa    60 Prozent der Bevölkerung muss mit weniger als 2 USD pro Tag auskommen. Die Armut ist aber sowohl regionalals auch zwischen  den sozialen Gruppen ungleich verteilt. Die Mehrheit der Armen lebt auf dem Land und gehört Minderheiten an (mehrheitlich Dalits,  Adivasi und Muslime).

Seit der Liberalisierung der Wirtschaft im Jahr 1991 hat die Ungleichheit zugenommen. Zum einen liegt das an der Zunahme der Ungleichheit zwischen Stadt und Land, zum anderen daran, dass einige Bevölkerungsschichten überproportional von der  Liberalisierung der Wirtschaft profitiert haben.

Bei einer Reihe von Sozialindikatoren (z. B. Kindersterblichkeit) schneidet Indien im Vergleich mit seinen ärmeren Nachbarn oft schlechter ab. In keinem anderen Land hungern mehr Menschen als in Indien. Im aktuellen Welt-Hunger-Index, der 2019 von der Welthungerhilfe in Bonn und von Concern Worldwide Dublin publiziert wurde, liegt Indien auf Position 102 von 117, gleichauf mit Staaten wie Niger, Sierra Leone und Uganda. Die Lage in Indien wird als «ernst» klassifiziert.

Die ersten Ergebnisse zum aktuellen National Health and Family Survey für das Jahr 2015/16 weisen aus, dass etwa 40% der Kinder unter 5 Jahren zu klein für ihr Alter sind und in etwa ein Drittel zu leicht. Auch etwa 23 Prozent der Frauen zwischen 15 und 49 weisen einen zu niedrigen Body Mass Index auf und sogar die Hälfte aller schwangeren Frauen leidet unter Blutarmut.

Der aktuelle Bericht zur menschlichen Entwicklung (Human Development Report) listet Indien auf Platz 130. Position.  Zwar ist  der Indexwert in den vergangenen Jahren gestiegen, doch zeigen die Werte zu Einkommen, Bildung oder Lebenserwartung deutlich, dass die aufstrebende Wirtschaftsmacht Indien noch viele Hürden zu nehmen hat, bis von einem die breite Masse erfassenden Wohlstand gesprochen werden kann. Dies liegt auch an den bisher weitgehend erfolglosen Armutsbekämpfungsprogrammen.

Die Gründe für die wenig effektiven und überwiegend ineffizienten Programme zur Armutsbekämpfung sind vielfältig: Seit der Unabhängigkeit wurden eine Vielzahl von Programmen auf Zentral- und Bundesstaatenebene eingeführt, was zu einer Fragmentierung der Programme geführt hat, wobei viele chronisch unterfinanziert sind. Des Weiteren hat eine schlechte Zielgruppenauswahl und – orientierung, hohe Sickerverluste aufgrund von Korruption, politische Einflussnahme, schwerfällige Bürokratie und Misswirtschaft, die Wirksamkeit der Programme negativ beeinträchtigt.

Die Ziel- und Schwerpunkt der Armutsbekämpfung wurde traditionell in den Fünf-Jahres-Plänen festgelegt. Im elften Fünf-Jahres-Plan (2007-2012) wurden neben den bekannten Schwerpunkten wie integrierte Maßnahmen in den Bereichen Bildung und Gesundheit, Berufsausbildung, Kredite und Infrastrukturmaßnahmen und Aufbau von sozialen Sicherungssystemen und Landreformen auch die bestehenden Unterschiede in der Entwicklung («Bridging Divides. Including the Excluded») und Wege zu ihrer Überwindung diskutiert. Im zwölften Fünf-Jahres-Plan (2012-2017) sind diese Themen ebenfalls wieder präsent, wobei vor allem auf ein schnelles, nachhaltiges und inklusives Wachstum abgestellt wird. Darüber  hinaus werden Maßnahmen in den wesentlichen wirtschaftlichen und sozialen Sektoren skizziert. Unter Narendra Modi wurde das Erstellen von Fünf-Jahres-Plänen eingestellt und die verantwortliche Planungskommission aufgelöst, an deren Stelle seit 2015 nun ein Think-Tank (NITI Aayog) getreten ist.

Aktuelle Sozialpolitik

In der aktuellen Sozialpolitik sind bisher drei allgemeine Tendenzen  zu erkennen. Erstens setzt die Regierung die bestehenden, von der Kongresspartei initiierten Sozialprogramme (z.B. das Mahatma  Gandhi National Rural Employment Guarantee Scheme, MGNREGS) im Wesentlichen fort, bzw. baut diese aus („Housing  for  all  by 2020“). Zweitens versucht die Regierung bestehende und neue Programme transparenter, effizienter und korruptionsfreier zu gestalten (z.B. durch digitalisierte Verwaltung). Drittens sind unter Modi neue Programme ins Leben gerufen worden, speziell das sogenannte Jan Dhan Aadhaar Mobile-Programm (JAM), das unter anderem die finanzielle Inklusion und soziale Absicherung der Armen zum Ziel hat. Es umfasst die kostenlose Eröffnung von Bankkonten  für alle, ein Handy-basiertes Bezahlungsmodell und vor allem eine biometrische Identitätskarte – die Aadhaar-Karte – mit einer individuellen Identifikationsnummer (die allerdings bereits unter der Vorgängerregierung ins Leben gerufen worden ist). Das JAM- Programm bietet die Chance, die Armut in Indein zu reduzieren, da   es bereits die meisten Inder erfasst (ca. 93% der Bevölkerung) und einen schnelleren und zielgerichteten Transfer von Leistungen ermöglicht. Es umfasst auch eine beitragsbasierte Lebens- und Unfallversicherung sowie eine Pension. Aktuell werden Überlegungen diskutiert, sämtliche Subventionsprogramme (wie das Public Distribution System – PDS) durch Direktzahlungen zu ersetzen. Auch dies wird durch das JAM möglich.

Im Jahr 2018 stellte die BJP-Regierung unter Modi das nach ihren Angaben weltweit größte regierungsfinanzierte Gesundheitsprogramm vor, welches einen Großteil der von Armut bedrohten Familien absichern und das bestehende Gesundheitssystem qualitativ verbessern soll. Ein ähnliches Unterfangen wurde zwar bereits im Budget von 2016 angekündigt, hat allerdings nie die gesteckten Ziele erreicht.

Deutscher Entwicklngszusammenarbeit-Beitrag

Indien ist seit 1958 Schwerpunktland der deutschen Entwicklungszusammenarbeit. Mittlerweile hat es fünf Deutsch-Indische Regierungskonsultationen gegeben, zuletzt in Neu-Delhi Anfang November 2019. In der gemeinsamen 5. Regierungserklärung wird die strategische Partnerschaft und die vertiefte Zusammenarbeit in der Außen- und Sicherheitspolitik und der nachhaltigen Entwicklung hervorgehoben und vereinbart, die Handels- und Investitionsbeziehungen zu stärken. Federführend für die deutsche Entwicklungszusammenarbeit  mit Indien ist das BMZ. In New Delhi sind die beiden großen Durchführungsorganisationen GIZ und KfW vertreten. Auch eine größere Zahl bekannter kirchlicher und privater Nichtregierungsorganisationen arbeitet in Indien. Auch deutsche politische Stiftungen sind vertreten.

Aktionsgemeinschaft Solidarische Welt Andheri-Hilfe Bonn

Brot für die Welt Caritas International Friedrich-Ebert-Stiftung

Friedrich-Naumann-Stiftung Hanns-Seidel-Stiftung Heinrich-Böll-Stiftung Konrad-Adenauer-Stiftung MISEREOR

Rosa Luxemburg Stiftung

Ausländische Entwicklungsanstrengungen

Indien entschied sich bereits 2003, neben multilateralen Gebern nur noch eine Handvoll bilateraler Partner zu akzeptieren: Deutschland, Großbritannien, Japan, Russland und die USA. Nachdem es in Großbritannien eine Debatte gegeben hatte, warum Entwicklungsgelder an wachstumsstarke Länder wie Indien und China fließen sollten – noch dazu zwei Länder mit eigenen Atomprogrammen -, wird offiziell seit 2015 keine britische Entwicklungshilfe mehr an Indien geleistet. Trotzdem fließen   natürlich noch reichlich britische Gelder nach Indien.

Bei den multilateralen Partnern sind die Vereinten Nationen und ihre Unterorganisationen zu nennen. Auch Weltbank und ADB orientierten sich in ihren Programmen bzw. Strategien bisher an den nationalen Entwicklungsplänen.

Die EU ist ein weiterer strategischer Partner Indiens. Das Strategiepapier 2007-2013 konzentrierte sich auf die Sektoren Gesundheit, Bildung und die Implementierung eines gemeinsamen Aktionsplanes. Im November 2018 wurden dem Europäischen Parlament und dem Europäischen Rat von der EU-Außenbeauftragten eine EU Indien-Strategie vorgestellt.

Das 14. EU-Indien Gipfeltreffen fand im Oktober 2017 in Delhi statt. Die gemeinsame Erklärung unterstrich noch einmal die gemeinsame strategische Partnerschaft im Bereich der Terrorismusbekämpfung und gleichzeitig wurden zwei Deklarationen zu Klima- und Energiepartnerschaft für smarte und nachhaltige Urbanisierung unterzeichnet.

Durch das Ausland finanzierte Nichtregierungsorganisationen (NGOs) sind seit Jahren im Visier der indischen Regierung. Nach den Foreign Contribution Regulation Rules bedarf es der Erlaubnis der indischen Regierung, wenn eine NGO ausländische Gelder annehmen möchte. Dieses Gesetz ist speziell gegen internationale NGOs gerichtet, wie die Landesbüros von Greenpeace oder Amnesty International. Unter der Regierung Modi hat sich die Lage der NGOs nicht verbessert.

Arbeitsmarkt

Nach den aktuellen Zahlen des (nicht frei verfügbaren) India Employment Report 2016 werden in den nächsten 15 Jahren jedes Jahr etwa 6 bis 8 Millionen junge Menschen auf den Arbeitsmarkt strömen, für die neue und gute Jobs bereitgestellt werden müssen. Eines der grundlegenden Probleme der Wirtschaftsentwicklung Indiens besteht darin, dass sie eine hohe Kapitalintensität aufweist, also mit zunehmendem Wachstum relativ immer weniger neue Stellen schafft. Man spricht hier von einem «jobless growth». Überhaupt sind nur maximal 7% der ca.  500  Mio.  Erwerbstätigen  im  sog. «organized sector», der auch die gesamte staatliche Verwaltung umfasst, tätig, die anderen 93% in unsicheren Beschäftigungsverhältnissen des informellen Sektors. Die ganz große Mehrzahl der arbeitenden Bevölkerung lebt unter prekären Umständen buchstäblich von der Hand in den Mund     und ist schutzlos dem Auf und Ab der Wirtschaft ausgeliefert. Welche dramatischen Folgen diese Abhängigkeit für die Betroffenen haben kann, zeigt die aktuelle Corona-Epidemie: Einen Monat nach dem harten Lockdown im März 2010 hatten 121 Millionen  Inder  ihre  Arbeitsstelle  verloren,  von denen einige Monat später rund 70 Millionen wieder eine Beschäftigung fanden, vorwiegend im informellen Sektor. Auch im formellen Sektor ging die Zahl der Stellen um fast 19 Millionen zwischen April und Juli 2020 zurück. Es wird geschätzt, dass ca. 4 Millionen Jugendliche von 15 bis 24 Jahren ihre Arbeitsstelle verloren haben. Weiterhin sanken die Löhne bei allen Gruppen von Beschäftigten.

Lag die jährliche Wachstumsrate der Erwerbstätigen zwischen 1983 und 2000 noch bei 1,9 Prozent, verringerte sie sich zwischen 2000 und 2012 auf nur noch bei 1,5 Prozent. Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass sich die Struktur des Arbeitsmarktes nicht grundlegend verändert hat. Noch immer arbeiten 43,7 Prozent der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft, dagegen nur 17,3 Prozent im Industrie- und 25,7 Prozent im Dienstleistungssektor.

Trotz der groß angelegten Marketing-Offensive und der unermüdlichen Werbetour durch Ministerpräsident Modi ihm Rahmen der „Make in India“-Kampagne, sind bisher kaum neue Jobs geschaffen worden. Es waren sogar deutlich weniger als unter der Vorgängerregierung. Nach den letzten offiziellen Zahlen für 2015 sind gerade einmal 100,000 neue Jobs für das gesamte Jahr entstanden(bei einem Bedarf von ca. 12 Millionen). Es ist trotz der niedrigen Lohnkosten und der vielen verfügbaren Arbeitskräfte unwahrscheinlich, dass viele neue Arbeitsplätze in der verarbeitenden Industrie geschaffen werden. Vielmehr dürften die Produktionsprozesse verstärkt automatisiert und daher weniger beschäftigungsintensiv werden. Auch die im September 2020 verabschiedete Reform, sprich: Liberalisierung, der Arbeitsgesetze wird auch nicht zu einer substanziellen Änderung der Situation führen.

Autoren sind Clemens Jürgenmeyer, M.A. vom Arnold-Bergsträsser-Instituts und Lehrbeauftragter an der Universität Freiburg sowie Dr. Michael Arndt am Lehrstuhl für Internationale Politik, Seminar für Wissenschaftliche Politik der Universität Freiburg. Die Veröffentlichung der Länderinformationen auf unseren touristischen Seiten wurde mit der GIZ besprochen.